Ohne Radu sind wir nichts - heute wird's lang (!)


Heute schreibe ich den Blog von gestern, denn gestern endete erst heute... . Um halb drei Uhr nachts sind wir in die Betten gefallen, todmüde aber geflasht von einem unglaublich abwechslungsreichen, erdenden Tag, mit einem Mix aus akademischer Genauigkeit und rumänischer Gelassenheit. 

Am Morgen stehen nach dem Frühstück alle abfahrbereit in Outdoorklamotten vor dem Hostel, von wo aus es in das etwa 15 Kilometer entfernte Holzmengen (Hosman) geht. An der dortigen Kirchenburg erhalten wir einen fundierten Exkurs zur wechselhaften Geschichte des Landes und den Zweckbestimmungen der Kirchenburgen früher und heute. Die Kirchenburg in Holzmengen ist, wie viele andere dieser Region auch, Dank eines Vereins in Dauerrenovierung begriffen; das angrenzende Pfarrhaus wird an Jugendgruppen vermietet - auf dem weitläufigen Gelände finden diverse Kulturveranstaltungen über das ganze Jahr verteilt statt.

Auch in der Moara Veche/Alte Mühle Holzmengen finden solche Veranstaltungen und Bildungsangebote statt, in der wir nun unser akademisches Zentrum des Tages aufschlagen. Nach einem leckeren und gesunden Mittagssnack aus Produkten des eigenen Anbaus des Mühlenteams, hören wir zwei einführende Vorträge zu unseren heutigen Themenschwerpunkten. Die studierte Stadt- und Landschaftsplanerin Viktoria Luft hat es vor etwa drei Jahren hierher verschlagen, seither engagiert sie sich bei vielen Projekten und kämpft gegenwärtig aktiv gegen das fortschreitende Landgrabbing großindustrieller Agrarunternehmen in Siebenbürgen. Angus Rinder für das viel umworbene "Karpaten Meat" werden hier im wahrsten Sinne des Wortes zu Landfressern, denn sie verdrängen in ihrer großräumigen Weidehaltung immer mehr die zaunlose Kulturlandschaft, in der traditionell Schafe über die weitläufigen Hügel ziehen und maximal kleinräumige Gatter kennen. Viktoria weiß auch vom größten Waldbesitzer in Rumänien zu berichten: Ikea. Der schwedische Konzern schlägt Schneisen in die Wälder die nur sehr langsam heilende Wunden hinterlassen. Zeigen wird sie uns dies später noch alles draußen im Gelände. Nach kurzer Verschnaufpause führen Angela Schumacher und Prof. Laszlo Rakosy, der als einer der weltweit anerkanntesten Experten für Tag- und Nachfalter gilt, in das heutige Praxisthema ein, bei dem die Schülerinnen und Schüler das Vorkommen von Nachfaltern untersuchen und vergleichen werden.

Am späten Nachmittag schnüren wir endlich unsere Wanderschuhe und schultern die Rucksäcke. Ich als Geograph scharre schon länger mit den Hufen, aber auch die Biologen sind freudig aufgeregt; endlich geht es wieder raus ins Gelände. Wir haben Glück, denn sogar ein Ornithologe ist mit seinem Fernglas mit von der Partie. Unsere Wanderung führt uns bergauf in die Hudewälder, über weitläufige, zaunlose Weide- und Mähwiesen, vorbei an Schäfern mit ihren Schafherden und Hütehunden. Immer wieder stoppen wir im Gelände und fangen Tagfalter; jeder der anwesenden Fachleute hat im Gelände was zu zeigen und erzählen, egal ob Falter, Vogel oder Aufschluss - Lerngelegenheiten lauern praktisch überall. Wir sind aber nach gut fünf Kilometern und etwa zweieinhalb Stunden froh endlich die spärliche Schäferei zu sehen, in deren Holzhütte auf dem Feuer bereits das Ceaun köchelt, in dem vom frisch für uns geschlachteten Schaf alles gart, was es essbares zu verwerten gibt.

Doch wir haben keine Zeit, denn die Sonne nähert sich schon dem Horizont und die Fallen für die Nachfalter müssen vor der Dämmerung stehen. Prof. Rakosy (Roko) trommelt also zum Aufbruch und wir verteilen diverse Eimerfallen, Köder und einen Lichtturm im Wald. Am Waldrand auf der anderen Seite dann die ersehnte Sicht auf die Karpaten und ein verdutzter Blick in Überwachungskameras mitten in der Natur. Wir stehen vor einem Elektrozaun einer Angus Weide, auf der etwas weiter entfernt Rinder grasen. Jetzt wissen wir was Viktoria meinte... . Bei aufkommender Dunkelheit geht es zurück durch den Wald. Auf die Nachtfalter müssen wir noch etwas warten, also Zeit zum Essen.  Die Schäferfamilie empfängt uns herzlich in ihrem Feldunterstand, der  "Schäferei". Ich komme, dank Übersetzung von Noah, mit Valera, dem 19jährigen Jungschäfer der Familie ins Gespräch, der mir mit Stolz von ihren 400 Schafen berichtet und selbstbewusst meint, dass er sich bereits eine eigene Herde aufbaut. 40 Hektar dieses besonderen Gras- und Weidelandes haben sie für ihre Herde gepachtet, die zusätzlich zwei Nachthirten benötigt, welche in diesen kleinen Baracken neben den Herden und Hunden schlafen. Doch dann ruft das Schäferbuffett: Zu meinem Erstaunen greifen alle kräftig bei den Köstlichkeiten zu. Alle kosten die traditionelle Feldküche ohne Vorbehalte, bevor Roko zu einem ersten Fallencheck ruft. Zunächst ist er skeptisch: "Der Mond ist beinahe voll, es ist zu hell und diese Nacht ist schon recht kalt". Doch beim zweiten Check gegen Mitternacht sind auch am Lichtturm einige Falter zu finden. Witzig: Der erste Fund ist eine Achateule, die dem Namen nach ein wenig zu Idar-Oberstein passt. Aber auch seltene Arten gehen dem deutsch-rumänischen Erasmus+ Forscherteam ins Netz, das die Fänge morgen genauer auswerten wird. Also Abbau der Lichtfallen und Rückfahrt an die alte Mühle in Holzmengen.

Doch dann das Problem: Der bestellte Traktor samt Anhänger hat uns - "ganz rumänisch", könnte man meinen - vergessen und jetzt ist es ihm eh zu spät. Reiseleitung Schumacher aktiviert ihr regionales Netzwerk und wie vom Himmel gesendet, kommt auch Radu von unserem Hostel (wirklich!) zufällig beim Schäfer vorbei. "Ich wollte Käse holen", sagt er und öffnet im gleichen Atemzug die Ladeluke seines Gelände-PickUps, auf dessen Ladefläche weitere Leute sitzen können. Abenteuer pur steht uns bevor, denn die Wege sind unwegsam und der organisierte VW-Bus fährt sich auch noch fest. Doch Radu ist da, übernimmt schnell und selbstverständlich die Regie: "Los", sagt er zu mir, "du fährst mein Auto weiter, ich helfe den Frauen (im VW-Bus)". Er manövriert gekonnt den Bus aus dem Morast, während ich mit meiner Truppe und Allradantrieb entspannt die Schlammlöcher auf der Buckelpiste nehme. Was für ein wilder Ritt durch die rumänische Mondnacht, die für uns erst gegen halb drei im Hostel endet. "Das erzählen wir noch unseren Kindern", "unvergesslich" und "ohne Radu wären wir nichts", höre ich aus dem Off. Gute Nacht, guten Tag oder bis später, wie ihr wollt... .

von unserem Blogger
Frederick Fisher

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